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PRISM & Co: Wie sich der Überwachungsstaat verhindern lässt

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Die Praktiken zur Überwachung der digitalen Kommunikation bedrohen unsere Freiheit. Doch sie sind der Preis für ein weit verbreitetes Sicherheitsdenken. Nur wenn wir dies ablegen, verhindern wir den Big-Brother-Staat.

SicherheitWeitreichende Internetüberwachungspraktiken wie PRISM verdeutlichen, wie weit die Erosion von Bürgerrechten und Privatsphäre im digitalen Zeitalter bereits vorangeschritten ist. Dagegen anzukämpfen, erscheint schon deshalb wichtig, weil heute niemand erahnen kann, was mit momentan gesammelten Informationen in zehn oder 20 Jahren geschieht. Was heutige Überwacher und ihre Sponsoren noch zurecht als persönliche Angelegenheiten betrachten, könnte ein künftiges Regime möglicherweise gegen einen verwenden.

Und dennoch empfinde ich die Haltung vieler Freiheitsverteidiger – zu denen ich mich freilich auch zähle – für einseitig. Zu kategorisch versperren sich die “Netzgemeinde” und ihren Sympathisanten davor, den als politischen Gegnern wahrgenommenen Anhängern der Überwachung zumindest in ihrer Lagebewertung punktuell Recht zu geben. Wahrscheinlich, weil sie glauben, damit ihre Position zu schwächen. In Wirklichkeit ist sie aber dann schwach, wenn sie auf einer Ignoranz der Wirklichkeit basiert und lediglich Veto-, aber nicht Lösungscharakter besitzt.

Terrorismus ist keine erfundene Bedrohung

Natürlich ist Terrorismus eine ernsthafte Bedrohung. Konservative und Geheimdienste mögen den Anschein geben, es sich in ihrer Rechtfertigung leicht zu machen, und man mag mutmaßen, dass sie die plötzlich aus dem Hut gezauberte Zahl von angeblich 50 vereitelten Anschlagsplänen erfunden haben könnten. Unwahrscheinlich ist dies nicht, immerhin lassen sich derartige Behauptungen kaum nachprüfen. Tatsache ist aber: In den vergangen 15 Jahren gelangen Terroristen einige schreckliche Taten, was angesichts der bereits laufenden Beschattung automatisch bedeutet, dass die Dunkelziffer aller geplanten, aber vereitelten oder von den Initiatoren frühzeitig eingestellten Anschlagspläne deutlich über der Zahl der bekanntgewordenen Fälle liegt.

Ich halte daher fest: Die Terrorgefahr, so ermüdend der Begriff aufgrund seiner permanenten politischen Instrumentalisierung auch ist, existiert. Sicherheitsbehörden und Geheimdienste sehen es als ihre Aufgabe an, die Öffentlichkeit vor der Verwirklichung von Anschlägen zu schützen.

Neue Vorzeichen im digitalen Zeitalter

Das war natürlich auch schon vor dem Internet so. Die RAF konnte ihre tödlichen Aktionen durchführen, obwohl es kein Facebook, Skype oder PalTalk gab. Doch mit dem Aufkommen des Netzes verändern sich mindestens zwei Vorzeichen:

1. Die technische Struktur des Internets räumt Überwachern neue Möglichkeiten ein, um ihre Ziele der Terror- und Kriminalitätsprävention zu erreichen. Beispiel: Wenn vor 30 Jahren zwei potenzielle Terroristen über zwei willkürlich ausgewählte, nicht abgehörte Telefonanschlüsse miteinander kommunizierten, waren NSA, BND & Konsorten im Prinzip nicht in der Lage, von diesem Gespräch etwas zu erfahren, da es in keiner Form zu einer Datenübertragung oder -speicherung kam. Anders dagegen, wenn sich die Protagonisten auf digitalen Wegen untereinander austauschenen: Dann existieren für die Geheimdienste wenigstens in der Theorie Wege, diese Daten im Moment oder rückwirkend einzusehen, obwohl sie die zwei Individuen selbst bisher gar nicht auf dem Schirm hatten – indem sie sich wie im Rahmen von PRISM geschehen Direktzugriff auf die Server der führenden Webservices verschaffen oder aber an neuralgischen Knotenpunkten des Internets “zuhören” und nach spezifischen Begriffen oder Begriffskombinationen Ausschau halten. Ich schreibe “in der Theorie”, weil es in der Praxis sicher allerlei Faktoren gibt, welche die Effektivität beeinflussen, und weil schon eine von den überwachten Personen verwendete Verschlüsselung ihrer Kommunikation den Lauschangriff ins Leere laufen lassen könnte. Doch die Aussicht auf theoretischen Erfolg ist für die Sicherheitsorgane Anlass genug, von dieser Option Gebrauch zu machen.

2. Welchen Einfluss die Existenz des Internets auf die Zahl von Terrorakten hat, weiß ich nicht. Ich bin aber überzeugt davon, dass in einer vernetzten Welt die indirekten Auswirkungen einzelner Attacken weitreichender sind, als dies vor 50 Jahren der Fall war. In einer von wirtschaftlicher und logistischer globaler Vernetzung, immer schneller drehenden Nachrichtenzyklen und der Omnipräsenz von Smartphone-Kameras geprägten Zeit reist jede von Individuen ausgeführte Greueltat innerhalb von Minuten um die Welt, landet im Bewusstsein von Millionen von Menschen und beeinflusst ihr Handeln – auch tausende Kilometer entfernt. Die Motive für Terroristen mögen unterschiedlich und vielseitig ausfallen. Eine größtmögliche Aufmerksamkeit und Symbolik zu erreichen, stellt aber zweifellos einen Faktor dar – und dies ist heutzutage leichter denn je. Das Web hat somit (hoffentlich) keine Auswirkung auf die Quantität von Terrorattacken, aber es verändert ihre Qualität, es erweitert den Radius ihrer Wahrnehmung und es schafft Furcht, wo früher keine existierte.

Diese beiden Faktoren sind verantwortlich dafür, dass Überwachungsmaßnahmen mittlerweile ein äußerst ungesundes Maß angenommen haben. Den Behörden eröffnen sich neue technische Verfahren, um ihrem eindeutigen Auftrag des Schutzes der Bevölkerung vor Unheil nachzukommen, und die durch das Netz veränderte Qualität und “Reichweite” des Terrors dient ihnen als Rechtfertigung und Anlass, zu Maßnahmen zu greifen, die aus bürgerrechtlichen, datenschutzrechtlichen und ethischen Gesichtspunkten problematisch sind.

Drei Handlungsalternativen

Blickt man auf diese Konstellation, ergeben sich drei mögliche Handlungsalternativen. Erstens: Man könnte das Internet abschalten. Praktikabel? Natürlich nicht. Zweitens: Wir akzeptieren die totale Überwachung zum Erreichen der größtmöglichen körperlichen Unversehrtheit aller. Praktikabel: Vielleicht, aber garantiert nicht erstrebenswert. Drittens: Wir verabschieden uns von dem Streben nach maximaler Sicherheit und definieren davon ausgehend die Aufträge der Geheimdienste neu. Praktikabel: ja, aber gesellschaftlich und politisch akzeptiert? Unklar.

Sicherheitsdenken als Wurzel der Überwachung

Es ist das unermüdliche Streben der modernen Zivilisation nach der Ausschaltung aller Risiken und die Maximierung von Sicherheitsvorkehrungen zum Erreichen einer größtmöglichen körperlichen Unversehrtheit, welche Gesellschaften in Überwachungsstaaten verwandelt. Anders formuliert: die Angst vor dem Tod. Nach dem aktuellen Wertekonstrukt rechtfertigt die Reduzierung der Zahl von Terroropfern Einschnitte in die persönliche Freiheit von Millionen von Menschen. Wir erhalten ein höheres Maß an körperlicher Unversehrtheit, bezahlen dafür aber mit unserer Privatsphäre und unserer Freiheit – im Endeffekt also mit seelischem Wohl.

Ich glaube, dass uns nur die Abkehr vom exzessiven Sicherheitsdenken vor einem Orwellschen Staat schützen kann. Nur würde dies ein massives gesamtgesellschaftliches Umdenken erfordern. Es hieße, mehr existentielle Risiken in Kauf zu nehmen und in Situationen, in denen das Leben durch Terror unerwartet ein Ende findet, nicht Sicherheitsbehörden Versagen vorzuwerfen. Ein ganz praktische Maßnahme außerhalb des Überwachungskontextes wäre es etwa, Sicherheitschecks an Flughäfen abzuschaffen. Für 99,9 Prozent der Fluggäste würde dies mit einem enormen Komfort-, Zeit- und Integritätsgewinn einher gehen. Ein ganz kleiner Teil allerdings hätte nicht garantiert, aber eventuell das Nachsehen, befände sich vielleicht auf einem Flug, auf dem ein Verrückter plötzlich ein Küchenmesser zückt, oder auf dem sich ein Terrorist ins Cockpit begibt und das Flugzeug entführt. Wer würde ein Flugzeug ohne einen vorherigen akribischen Bodycheck besteigen, und wer nicht?

Wie sicher wollen wir leben?

Dass jetzt auf politischer und aktivistischer Ebene darüber gestritten wird, wie weit Überwachung gehen darf, ist besser, als sie einfach hinzunehmen. Mittelfristig befürchte ich jedoch, dass sich das Pendel aus beschriebenen Gründen trotzdem schrittweise in Richtung Totalüberwachung bewegt. Insofern wäre eine Grundsatzdebatte über den Preis, den wir für größtmögliche Sicherheit zu zahlen bereit sind, sehr viel zielführender. Ob sie zu einem konstruktiven Ergebnis führt, sei einmal dahin gestellt. Die eigene Haltung zum Tod zu ändern und sich offen dazu zu bekennen, bewusst auf vielleicht bewiesenermaßen effektive Sicherheitsvorkehrungen und Überwachungsmaßnahmen verzichten zu wollen, ist wahrscheinlich eines der schwierigsten Unterfangen für Menschen überhaupt – nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen kulturellen, emotionalen, religiösen und auch wirtschaftlichen Aspekte, die dabei eine Rolle spielen, und des generellen Tabus, welches das Thema Tod umgibt. Dieses Tabu wiederum erklärt, warum sich ein Konsens entwickelt hat, der individuelles körperliches Wohl über kollektives seelisches Wohl stellt. Doch es ist genau dieser Tauschhandel, der im Internetzeitalter die Saat für den Überwachungsstaat legt.

Die entscheidende Frage ist nicht, einen Kompromiss zur Webüberwachung zu finden. Die entscheidende Frage lautet, wie “sicher” wir leben wollen. /mw

(Foto: stock.xchng/linder6580)


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